Meine Oma aka Muschka, wie ich sie nenne, ist wirklich eine super patente Frau. 83 Jahre jung, immer farbenfroh und in passender Kombi gekleidet, quirlig, laut, lebendig. Sie wohnt mit meinem Opa und ihrer Blindenführhündin Katu in einem Mehrgenerationenhaus in Niedersachsen, ist über viele Jahre hinweg fast vollständig erblindet, liebt es zu schwimmen und zu quatschen, macht Lachyoga und reist gerne. Sie ist Mutter von vier Kindern, Oma von fünf Enkelkindern, Ur-Oma zweier Ur-Enkelkinder und hat viel für die Familie zurückgesteckt. Sie engagiert sich für den deutschen Blindenführhundverein und liebt Hunde.
Meine Oma ist voller Tatendrang, Lebensfreude, Offenheit und Stärke und sie hat viele Erfahrungen in über acht Dekaden gesammelt. Durch dieses Gespräch mit ihr, wollte ich mehr über ihre Perspektive zur Entwicklung der Gleichberechtigung, einer Blinden und ihren persönlichen Antrieb erfahren. Ich hätte Stunden mit ihr weiterquatschen können – hier ein Auszug.
Was hat dir Orientierung gegeben im Leben? Gab es Vorbilder?
Mir selbst treu zu bleiben. Dinge zu machen, die ich vertreten kann. Geradlinig direkt zu sein, auch wenn man damit aneckt – hier ist eine gewisse diplomatische Vorgehensweise gefragt. Ich habe nie Sachen gemacht, hinter denen ich nicht 100% stand. Zum Beispiel bei der Auswahl an Geschäfts-Freunden. Menschen zu sich einzuladen, nur um einen vermeintlichen Vorteil dadurch zu erhaschen, finde ich widerwärtig.
Was war dir schon immer wichtig?
Meine Familie natürlich. Und immer guter Dinge zu sein, das Positive bei jeder Situation zuerst zu fokussieren. Mein fester Glaube, dass die Geschicke geleitet werden prägt mich hierbei. Ich frage nicht nach dem Warum, sondern bitte Gott mir Kraft zu geben, um zum Beispiel mit Schicksalsschlägen umgehen zu können. Man darf auch nicht sofort den Kopf hängen lassen. Man muss sich schütteln, so wie ein Hund, und es dann anpacken.
Was treibt euch an? Du und Opa habt einen unbändigen Antrieb, wo kommt der her?
Ich denke, dass ist einfach eine Charaktereigenschaft. Es gibt Menschen, die sind eher gleichgültig und weniger interessiert. Dein Opa ist unglaublich neugierig und interessiert – am liebsten würde er zum Mond fliegen. Anstelle dessen pflanzt er Bienenbäume, kommt mit jedem ins Gespräch, liest sehr viel und geht seiner Wissbegierde nach.
Und dich, was treibt dich an?
Mein Slogan, den ich schon in Kindheitstagen nutzte, und durch den meine Mutter wahnsinnig wurde, weil ich schon wieder etwas Neues ausprobieren wollte, hieß “Alles mitmachen”. Der trifft es ziemlich gut. Ich bin gierig in alles rein zu riechen und die Erfahrung zu machen wie das ist. Wenn einer sagte „da gibt es was Tolles“, dann hab ich da sofort mitgemacht. Für mich ist das die Neugier, alles erfahren zu wollen.
Welche Veränderungen über die Generationen hinweg waren für dich die prägendsten?
Der technische Fortschritt ist unglaublich. Früher bezogen wir Wohnungen in denen es keine Zentralheizungen gab. Alle Zimmer, bis auf das Wohnzimmer in dem ein Dauerbrenner stand, waren kalt. Also spielte sich hier alles ab. Auch die erste Waschmaschine war eine unglaubliche Erleichterung und nicht in jedem Haushalt selbstverständlich. Vorher hatten wir die ganze Babywäsche in einem großen Kochtopf auf dem Gasherd gekocht und anschließend gespült – das war ein unglaublicher Aufwand. Aber die meisten Mütter waren ja nicht berufstätig und im wahrsten Sinne des Wortes ans Haus gebunden. Kindergartenplätze waren immer rar. Wir organisierten uns dann zur gegenseitigen Betreuung der Kinder mit anderen Müttern, so dass jeder mal einen Tag in der Woche “frei hatte” um Einkäufe zu erledigen.
Also der technische Fortschritt war definitiv eine Erleichterung für die Hausfrau. Deshalb kann es sich heute wahrscheinlich auch erst umso mehr um das Thema Gleichberechtigung drehen.
Die Gleichberechtigung ist natürlich der tollste Fortschritt, der ist aber immer noch nicht abgeschlossen. Das Privileg, das damals für viele Männer Standard war, war, dass die Frau zuhause blieb. Stolz wie Oskar hieß es dann: “Meine Frau geht nicht arbeiten” und das wollten sie auch so. Damals konnte die Familie auch von dem Gehalt des Mannes leben, weil sie eben nicht die Ansprüche hatten, die heute die Familien haben. Da gabs nicht jedes Wochenende eine andere Aktion für Kinder, von Tierpark bis Rummel. Als wir später ein Auto besaßen, waren wir alle super froh, wenn wir uns am Wochenende da rein setzten und von Baustelle zu Baustelle fuhren, da Opa diese für seinen Job immer besichtigen musste (lacht). Danach wurde noch eine Spaziergang gemacht.
Noch eine weitere Frage zum Thema Gleichberechtigung: eigentlich wolltest du dich damals auch weiterbilden, Opa arbeitete Vollzeit und du hattest die Kinder, deshalb klappte es nicht – hast du damals eigentlich schon gedacht “ich seh das nicht ein” oder es einfach so akzeptiert?
Das ist eine individuelle Sache und wir können hier niemanden dafür verantwortlich machen. Opa hat mir keine Hilfe für die abendliche Kinderbetreuung zugesagt, in der ich das Abi nachmachen wollte. Er war damals in einer leitenden Position in einem Bauunternehmen. Es gibt sicherlich Frauen, die das trotz vier Kindern umgesetzt und zum Beispiel ihre Kinder abends alleine gelassen hätten, aber ich habe es nicht geschafft über meinen Schatten zu springen und meine Bedürfnisse als Priorität in den Vordergrund zu stellen – z.B. in dem wir eine Betreuung organisiert hätten. Man muss auch sagen, dein Opa wollte das auch nicht – eine andere Person, die das Abendbrot machte und die Kinder ins Bett brachte. Ausserdem hätte es finanziell unseren Rahmen gesprengt. Wenn er zum Mittag mal nicht nach Hause kam, sagte er noch nicht einmal ab. Das war unter seiner Würde. Stichhaltige Argumente meinerseits ignorierte er (auch wenn ich ihm sagte, dass er nicht alle Tassen im Schrank hatte ;)). Wir Frauen waren abhängig von den Männern und die haben ihre Ansprüche geäußert – das war in den meisten Familien zu dieser Zeit der Standard. Zum Beispiel musste alles aufgeräumt und das Haus eine ruhige Oase sein, indem die Kinder auf ihren Zimmern spielten, wenn der Mann nach Hause kam. Wir Freundinnen haben uns immer nachmittags zum Kaffee getroffen, mussten aber vorm Abendessen rechtzeitig wieder weg sein. Wir haben damals aber auch früh geheiratet – mit 20, da hast du das zunächst so akzeptiert und bist erst spät wach geworden. Ich habe mir später Stück für Stück etwas Eigenständigkeit zurückgeholt, das fing an als die Kinder größer waren. Dein Opa war, was das Thema Reisen anbelangte aber zum Beispiel auch sehr großzügig – ich bin sowohl mit den Kindern, als auch alleine gereist und habe mit 52 eine spannende und für die Zeit nicht gewöhnliche Reise für vier Wochen ganz alleine nach Costa Rica unternommen – das war zu dieser Zeit überhaupt nicht selbstverständlich.
Für mich bist du überhaupt nicht diese typische Frauchen- oder Mutterrolle in Person.
Ja, ich glaube ich habe mir diese Ausbildung damals nicht zugetraut. Die wäre über 1,5 Jahre gegangen und ich wollte auf gar keinen Fall abbrechen. Ich hatte damals eine Freundin, die hat kurz vor dem Abitur ihr erstes Kind bekommen, ist mit ihrem Mann damals weggezogen und hat drei weitere Kinder bekommen. Sie hatte aber weder ein Abschluss noch eine Arbeit. Später hat sie dann neben den Kindern ein Studium zur Apothekerin durchgezogen. Aber das auch mit vier Nervenzusammenbrüchen, Klinikaufenthalten und am Ende einer gescheiterten Ehe. Ich habe sie dafür einerseits bewundert, andererseits war das auch was ich nicht wollte. Meine Ehe und unsere Familie wollte ich gerne aufrecht erhalten und das hätte durchaus mit einer Ausbildung scheitern können.
Wie hast du denn deinen inneren Frieden mit dieser Situation damals gefunden? Zumindest hast du deinen Optimismus nie verloren.
Das was ich durchgedrückt bekommen habe, waren die Hunde. Ich wollte immer Hunde haben und darin bin ich sehr aufgegangen. Ich habe den ersten Hund selbst im Verein ausgebildet, dort hatte ich Anschluss und genoss auch eine gewisse Beliebtheit. Das war was, was ich ohne Opa durchziehen konnte. Zudem war Opa häufig von morgens 5 bis abends 22 Uhr für die Arbeit weg, da konnte ich dann einfach mein Ding machen. Das fand ich positiv.
Inzwischen stehst du ja in keinster Weise mehr “unter” Opa.
Nee, das hat sich inzwischen normalisiert, wenn nicht andersherum. Aber wenn Opa sich was in den Kopf gesetzt hat, dann macht er das auch immer noch.
Du triffst aber ja auch eigenständig Entscheidungen und handelst relativ frei.
Ja und das ist in dieser Generation immer noch nicht selbstverständlich. Es gibt immer noch Paare, wo die Frau um 18 Uhr das Essen auf den Tisch stellen muss. Früher war es einfach undenkbar, dass ein Mann einen Kinderwagen schob oder Windeln auf die Wäscheleine hing.
Nun ein anderes Thema. Du machst ja auch Lachyoga. Wie bist du auf diese Idee gekommen? Beziehungsweise wie kommst du an sich dazu so viele Praktiken in dein Leben zu integrieren?
Alles was neu ist und spannend klang habe ich ausprobiert, sei es Jin Shin Jyutsu, Hand- oder Fußreflexionsmassage, Klopftechnik, Traumdeutung, Literaturkreise… Über das Lachyoga habe ich in einem Zeitungsartikel gelesen und mir von Opa die Nummer geben lassen. Ich habe die Lehrerin angerufen und ihr von unserem Mehrgenerationenhaus erzählt und gefragt, ob sie diese Kurse nicht auch bei uns anbieten könnte. Das hat sie dann gemacht. Ich habe bei uns im Haus dann mit einem Plakat wo drauf stand “Lachen bricht alle Wiederstände” für diesen Kurs geworben. Das hat bis Corona gut geklappt, inzwischen mache ich es per Telefon mit Menschen aus ganz Deutschland.
Was wären denn deine Tipps, um positiv durchs Leben zu gehen?
Lachyoga (lacht). Sich über die vielen kleinen positiven Dinge zu freuen, bevor man das Negative überbewertet. Man hört so oft zuerst das Negative, es werden so oft zuerst über einen Menschen die negativen Eigenschaften genannt. Wie er oder sie sich kleidet, das aus ihm oder ihr überhaupt nichts geworden ist und zum Beispiel nur Schulden gemacht wurden, aber das er oder sie ansonsten ein herzensguter Mensch ist, wird vernachlässigt. Zuversichtlich zu sein und Hoffnung zu haben, sind für mich ebenfalls unabdingbare Einstellungen.
Was Bedarf es deiner Meinung nach, das unsere Gesellschaft sich zum Positiven wandelt?
Das ein geringeres Konsumdenken stattfindet. Die Leistungsgesellschaft macht uns alle krank – hier benötigen wir einen Wandel. Die Gesellschaft muss dahinter kommen, dass “weniger mehr ist”. Das wir grundsätzlich viel weniger brauchen, als wir unbedingt haben möchten. Das wir bei unserem Kosumverhalten darauf achten, Produkte die in Deutschland hergestellt wurden zu kaufen und statt fünf T-Shirts wir eigentlich nur eins benötigen.
Wofür engagierst du dich?
Für den Führhund Verein. Dort bin ich zum Beispiel mit an Schulen oder Kindergärten gegangen und habe den Kindern das Thema Blindheit näher gebracht. Oder auch auf Aktionswochen in der Stadt an einem Stand. Mich können auch Interessierte anrufen, wenn sie Fragen zum Thema Führhund haben und ich berichte ihnen aus eigener Erfahrung.
Ich habe früher mal einen Antiautoritären Kindergarten mitgegründet, bin auf Friedensdemos mitgelaufen und habe mich in allen Elternbeiräten der Schulen engagiert – bei vier Kindern ist das auch schon eine Menge. Heutzutage würde ich mich für den Klimaschutz einsetzen. Bei allen Demos mitlaufen und komplett dahinter stehen. Das halte ich für eine ganz wichtige Zukunftssache. Außerdem würde ich mich weiter für die Rechte von Behinderten einsetzen. Zum Beispiel, dass Behindertengerechter gebaut wird und Behinderte ansich mehr integriert werden.
Wie gut fühlst du dich mit deiner Blindheit in der Gesellschaft integriert?
Ich bin froh, dass ich in Deutschland lebe. Man wird relativ gut sozial betreut. Blinde bekommen ein Blindengeld, es wird versucht Blindengerecht zu bauen, Leitstreifen anzubringen, man kann Verkehrsmittel kostenlos nutzen. Da habe ich auf Reisen ganz andere Erfahrungen gemacht. Ich habe mit der Integration nicht so große Probleme, dadurch das ich einen Blindenhund habe, bin ich immer direkt sichtbar und habe auch keine großen “Unfälle”. Zb. wenn ich nur mit dem Stock gehen würde, dann würde ich vielleicht mal eine Mülltonne nicht früh genug bemerken. Der Hund ist mein bestes Hilfsmittel und ich komme durch ihn immer wieder ins Gespräch und treffe auch auf viel Hilfsbereitschaft. Es gibt ein paar Regularien, die verbesserungswürdig sind – da geht es darum, dass ich den Hund nicht überall mitnehmen darf. Manche Institutionen weigern sich, dass man den Hund mit reinnehmen darf, aus Unkenntnis oder weil sie ihr Hausrecht gebrauchen wollen. Da kämpfen wir in unserem Führhund Verband für neue Regeln. Da der Hund für uns ein Hilfsmittel ist wie ein Rollstuhl – den Rollstuhlfahrern kann man den Rollstuhl auch nicht einfach wegnehmen, dann kommen sie auch nicht mehr von A nach B.
Natürlich passieren einem manchmal blöde Situationen, aber heutzutage sind wir schon um einiges Fortschrittlicher – mein Großvater war damals auch blind und war ein richtiger Außenseiter. Das Verständnis, dass ein Sehender sich in die Lage eines Blinden sich versetzen kann, dass kann man nicht erwarten. Ich kann mich auch nicht 100% in die Lage eines Querschnittgelähmten versetzen.
Gibt es etwas das du dir wünscht, was sich für blinde Menschen ändern sollte?
Mehr Sensibilität von Passanten oder Mitbürgern, wenn es um die Situation auf den Gehwegen oder Straßen geht, da stoße ich häufiger auf Rücksichtslosigkeit.
Danke Muschka, für das Gespräch – du gibst mir immer viele wertvolle Impulse.
Und noch eine Info: mein Opa hat sich zwar früher als „Herr“ im Haus aufgespielt, hat aber den feministischen Wandel wohl erkannt und supportet nicht nur meine Oma mit ihrer Blindheit, er hat auch eine soziale und grüne Einstellung und ist ein Mann mit dem Herzen am rechten Fleck, den wir alle lieben ;).
Hej Cosima, wenn ich sie nicht schon kennen würde, dann würde ich mir, nachdem ich dein Interview gelesen habe, wünschen diese starke, positive und aufgeschlossene Frau kennen zu lernen! Sie ist – und war – trotz strenger Rollenverteilung, immer eine sehr eigenständige Persönlichkeit, die sich für die Familie, Freunde und noch viel mehr einsetzt, es auf ihre eigene Art und Weise geschafft hat Freiräume zu schaffen und sich niemals die Butter vom Brot nehmen lässt. Sie ist Motivation pur und Vorbild sich nicht zu schnell aufzugeben, für seine Rechte zu kämpfen, sich für die Umwelt und die Gesellschaft einzusetzen und dabei so gut wie nie den Humor zu verlieren, allen Übeln des Lebens zum Trotz!
Wie sie selbst sagt, ist es wohl eine Charaktereigenschaft, die aber auch weniger mutige, neugierige Charaktere ermutigt es anzupacken! Danke für dieses tolle Interview mit deiner wunderbaren Muschka, die auch dich mit ihrer Art etwas geprägt hat, und das ist gut so! 🙂
Weiter so!
Mone* (Mamutsch)