Lotte ist Annas Tochter und 13 Jahre alt. Sie hat ihre Großmutter, die wunderbare 80-jährige Gesine, im Rahmen eines Schulprojektes zum Thema Gleichberechtigung von Frau und Mann befragt. Das Ergebnis ist so toll geworden, dass ihr es alle lesen solltet. Seit unserem gemeinsamen Israel-Urlaub 2009 nennt Lotte ihre Großmutter Savta. Das ist hebräisch für Großmutter.
Warum ich Savta befragt habe. Also sie ist jetzt 80 Jahre alt und ihre Nachbarn nennen sie Queen der Fidicin. Sie wohnt nämlich in der Fidicinstraße in Kreuzberg und alle Nachbarn kennen sie. Sie ist eine auffällige Frau mit ihren roten Haaren und immer toll gekleidet. Sie lief früher erst Marathon, später dann Triathlon. Aber nur den Olympischen. Der ist kürzer als der Hawaii Marathon, der Iron Man. Sie war außerdem Mitglied der Frauengruppe Brot und Rosen, die 1974 Das Frauenhandbuch Nr. 1 über Abtreibung und Verhütung geschrieben hat. Die Gruppe hieß nach einer gleichnamigen Gruppe in den USA, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts für bessere Arbeitsbedingungen gestreikt hat unter dem Motto: Wir wollen Brot, aber wir wollen auch Rosen.
Savta ist echt sportlich
Sie hat viele Bücher von Frauen aus dem Amerikanischen übersetzt, es interessiert sie, was Frauen denken, sagt sie. Sie hat unter anderem das Buch von Kathrin Switzer übersetzt, die das Buch Marathon Women schrieb. Switzer war die erste Frau, die in Boston 1967 den berühmten Boston Marathon lief. Sie lief unter K. Switzer, deswegen merkte man bei der Anmeldung nicht, dass sie eine Frau war. Sie setzte mit Hilfe von anderen Sportlerinnen durch, dass der Marathon für Frauen olympisch wurde. 1974. Los Angeles.
Savta im Radio
Dann hat sie jahrelang auf diesem Gebiet im Radio (Sender Freies Berlin und Radio Berlin Brandenburg) gearbeitet, für eine Sendung, die hieß „Zeitpunkte“. Das hat sie von 1979 bis 2006 gemacht, als Moderatorin und Autorin. Seit September 2020 ist dieses frauenpolitische Magazin ein Podcast und heißt „Clever Girls“. Meine Oma findet diesen Namen unmöglich.
Themenschwerpunkte der Sendung waren und sind: Gesundheitspolitik, Literatur von Frauen, Musik von Frauen, Bildung und Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen, Schulpolitik, Kindererziehung, Rollenmuster, gleiche Bezahlung für gleiche Arbeit, Karrieremöglichkeiten trotz eigener Kinder, bessere Kinderbetreuung. Also ein wirklich weites Feld.
Wichtigstes Thema im Rahmen der Gesundheitspolitik waren ihr Abtreibung und Verhütung – erst seit 1975/76 war in der Bundesrepublik die Abtreibung nach vorheriger Beratung erlaubt. Interessant ist auch, dass viele Medikamente nur an Männern erforscht wurden aber auch Frauen verschrieben werden.
In Deutschland durften Frauen erst ab 1918/19 wählen, und auch so lange Zeit später noch gibt es viel zu wenig Frauen in führenden Funktionen. Die Naturwissenschaftlerin Angela Merkel ist eine sehr beachtliche Ausnahme für die ganze Welt, sie ist seit 2005 Bundeskanzlerin. Länger als ich, 2008 geboren, auf der Welt bin.
Der langsame Fortschritt der Gleichberechtigung
Wie langsam der Fortschritt voran geht, sollen zwei Beispiele zeigen: Bis in die Fünfziger Jahre, da war meine Oma schon 15, durften verheiratete Frauen nur arbeiten, wenn es die Ehemänner erlaubten. Und die US-amerikanische Richterin Ruth Bader-Ginsburg, die gerade gestorben ist, gehörte Mitte der Fünfziger Jahre in den USA an der New Yorker juristischen Fakultät zu 9 Frauen die dort studieren durften, unter 491 Männern. Als sie zu Ende studiert hatte, fand sie trotzdem herausragender Leistungen keine Anstellung. Sie hatte das Glück, einen Mann zu heiraten, der seine gute Arbeit aufgab, um sie zu unterstützen. Meine Savta wollte diese Geschichte unbedingt erwähnen.
Und sie behauptet, dass sie nicht genug täglich für ihre eigene Gleichberechtigung kämpft. Im Alter, sagt sie, wird das immer schwieriger. Weil alten Leuten nicht gern zugehört wird, jedenfalls nicht so gern wie jungen. Siehe: Clever Girls. Aber jetzt, sagt sie, möchte sie wieder anfangen zu kämpfen. Nicht kämpfen fühlt sich einfach falsch an, sagt sie.
Eine Buchempfehlung meiner Großmutter
Und zum Schluss fragte ich, was ihr Lieblingsbuch ist. Sie zog ein Buch der Australierin Germaine Greer aus dem Regal, das sie 1970 fürs Radio besprechen sollte. Germaine Greer. Der Weibliche Eunuch. Sie sagte, ich solle es lesen. Es sei ein Klassiker.
Wow! Mega! Alle beide! Und wie schön, dass du Lotte hier auch eine Bühne geben kannst, Anna 💛
Wie wunderbar, Frauen die sich über Generationen gegenseitige Wertschätzung, Anerkennung, Liebe und Inspiration schenken, da geht mir das Herz auf!!!
Wir lieben Lotte! Toller Text!
Ich bin beeindruckt. Von Lotte UND der Großmutter!
Ja, zurecht. Die sind auch beide absolut beeindruckend <3